Diesel-Abgasskandal: Wie unabhängig sind die Gerichte wirklich?
Ein Erfurter Landesrichter stuft das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25.05.2020 zur Nutzungsentschädigung im Diesel-Abgasskandal als europarechtswidrig ein, Präsident des Oberlandesgerichts Dresden empfiehlt, Verfahren gegen Volkswagen in der zweiten Instanz zurückzustellen. Ist die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr?
Es sind zwei Äußerungen von weitreichender Bedeutung für den Umgang mit dem Diesel-Abgasskandal in Deutschland im Speziellen und die Justizlandschaft und Rechtsprechung im Allgemeinen. So sorgt sich ein Richter am Landgericht Erfurt sehr offen um die Unabhängigkeit der Justiz und hat seine Bedenken sehr deutlich in einem Beschluss mitgeteilt (15.06.2020, Az. 8 O 1045/18). Der Richter lässt das erste Urteil im Volkswagen-Abgasskandal des Bundesgerichtshofs (25.05.2020, Az. VI ZR 252/19) auf europarechtliche Konformität überprüfen.
Im Mittelpunkt des vielbeachteten Prozesses stand die Frage, ob VW mit der illegalen Abschalteinrichtung in Millionen Diesel-Fahrzeugen die Käufer vorsätzlich sittenwidrig geschädigt hat und ihnen Schadenersatz schuldet – und wenn ja, in welcher Höhe. Das Ergebnis: Volkswagen ist vom Dieselskandal betroffenen Autobesitzern grundsätzlich zu Schadenersatz wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung, also wegen auch strafrechtlich relevanten Betruges verpflichtet. Auf den Kaufpreis müssen sich Kläger aber die gefahrenen Kilometer anrechnen lassen.
Und genau diese Nutzungsentschädigung kritisiert der Richter und hat das Urteil dem Europäischen Gerichtshof zur Überprüfung vorgelegt. „Die Begründung ist schlüssig: Ein solcher Ausgleich bedeute in letzter Konsequenz, dass Volkswagen umso weniger Sanktionen zu befürchten habe, je länger sich der Rechtsstreit hinziehe. Somit könnte ein starker Anreiz entstehen, die Rechtsverletzung gleichwohl zu begehen und die Anspruchserfüllung ungehörig zu verzögern. Das verstoße unter anderem gegen die EU-Grundrechtecharta“, fasst der Mönchengladbacher Rechtsanwalt Dr. Gerrit W. Hartung von der Dr. Hartung Rechtsanwaltsgesellschaft mbH die Argumente des Richters zusammen. Die Kanzlei Dr. Hartung Rechtsanwälte befasst sich ausschließlich mit Anleger- und Verbraucherschutzthemen und hat sich auf die Beratung von Betroffenen des Abgasskandals spezialisiert. Dr. Gerrit W. Hartung gilt als „Dieselanwalt“ der ersten Stunde.
Der Rechtsanwalt hofft im Sinne der geschädigten Verbraucher auf eine Abschaffung der Nutzungsentschädigung. Das würde die Ansprüche nochmals erhöhen und den erlittenen wirtschaftlichen Schaden im Diesel-Abgasskandal für Autokäufer weiter reduzieren. „Einige Oberlandesgerichte haben den Vorteilsausgleich in Zweifel gezogen, und der Europäische Gerichtshofs befasst sich derzeit in mehreren anhängigen VW-Verfahren mit dem Thema der Nutzungsentschädigung. Wir erwarten daher eine weitere Klarstellung, wobei sich Betrugshaftungsklagen gegen Hersteller weiterhin lohnen. Die Schadensersatzzahlungen zuzüglich deliktischer Verzugszinsen stellen attraktive Kompensationen für den Kauf manipulierter Diesel-Fahrzeuge dar.“
Auch ein anderes aktuelles Ereignis wirft Fragen auf. Der Präsident des Oberlandesgerichts Dresden hat kürzlich in einem Schreiben seinen Behördenkollegen der zweiten Instanz empfohlen, Verfahren Volkswagen-Abgasskandal „zurückzustellen“, um nicht „nutzlos Kapazitäten der Justiz [zu] binden“. „Für die Oberlandesgerichte, aber auch für die Landgerichte, dürfte es im Übrigen gerade angesichts des derzeit eingeschränkten Betriebes wichtig sein, die Kapazitäten auf die anderen Verfahren zu konzentrieren, um die Gefahr eines Rückstaus zu minimieren“, heißt es in dem Schreiben. Zudem hat der OLG-Präsident Kanzleien, die sich im Verbraucherschutz engagieren, indirekt kritisiert.
„Das beobachten Verbraucherschutzanwälte in ganz Deutschland natürlich mit großer Sorge. Ist die Unabhängigkeit der Justiz im Diesel-Abgasskandal wirklich in Gefahr? Wir kämpfen weiterhin für die Rechte geschädigter Verbraucher über alle Instanzen hinweg“, betont Rechtsanwalt Dr. Gerrit W. Hartung.